Der König


Authors
Shahar
Published
1 year, 8 months ago
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Orion lächelte prüfend seine Silhouette an.
Schon im nächsten Wimpernschlag erstarrten seine Gesichtszüge zu einer gleichgültigen Maske. Eiskalte blaue Augen wanderten über sein Abbild, das sich leicht verzerrt in der gläsernen Fensterscheibe spiegelte. Natürlich saß der maßgeschneiderte weiße Anzug genauso perfekt wie sein einstudiertes Lächeln. Nachdenklich zupfte der junge Mann die schwarze Krawatte an seinem Hals gerade, strich über den weichen Stoff der Jacke und neigte den Kopf ein wenig.
Mit seinem weißen Haar und den hellen Augen hob sich sein Spiegelbild von der Dunkelheit ab wie der Tag von der Nacht.
Auch wenn Orion es früher nie selbst begriffen hatte, so wusste er nun um seine feinen Gesichtszüge, die dunklen, langen Wimpern und die Ausstrahlung, die er damit haben konnte.
Wann hatte er begonnen, sich darum zu kümmern? 
Orion hielt inne, lauschte dem leisen Prasseln des Regens. Wäre er nicht in der höchsten Etage könnte man es wahrscheinlich gar nicht mehr wahrnehmen. Unbewegt betrachtete er, wie die winzigen Tropfen gegen das dicke Glas prasselten und hinab in die Tiefe perlten. Tausend Lichter in allen Farben brachen sich im Wasser.
Wie Sterne.
Er stieß ein leises, verachtendes Schnauben aus. Dennoch streckte er langsam den Arm aus, legte seine Handfläche auf die kühle Scheibe. Die Kälte kroch in seine Fingerspitzen, aber Orion wusste sie zu ignorieren. Seine leeren Augen starrten hinaus in die lichtdurchtränkte Finsternis. Der Regen ließ die Welt unter ihm in einem trüben Schein verschwimmen, wie ein Nebel, den man über die endlose Stadt legte. Selbst am Tag würde Orion keine Geräusche, keinen Lärm, keine Regung des steigen Treibens wahrnehmen.
Die Stille war ein Privileg, das nur jene genossen, die hoch genug gestiegen waren, um die Wolken zu berühren. Orion hatte nie daran gedacht, dass er auch taumeln, fallen, stürzen konnte.
Er hatte erreicht, was zu erreichen war. Und doch füllte ihn nichts als Antriebslosigkeit aus, all die Macht und all der Reichtum erschienen bedeutungslos im Angesicht der Leere in ihm.
Orion wusste, dass er noch Potenzial hatte, das er ausschöpfen konnte. Er wollte sie alle überflügeln und weiterkämpfen. So lange, bis er wieder fühlen würde. So lange, bis er sich daran erinnern konnte, wie es war, zu lachen. So lange, bis er eines Tages den tatsächlichen Sternenhimmel erblicken würde. Egal, was es kostete. Eines Tages würde er an der Spitze stehen.
Unterbewusst rieb er sich über seinen linken Arm. Unter dem samtigen, weißen Stoff befand sich sein auffälligster äußerlicher Makel. Kleine schwarze Punkte, beinahe mit Muttermalen zu verwechseln, zierten seine ansonsten makellose Haut. In Gedanken konnte er sie verbinden; zum Sternenbild nachdem er sich benannt hatte. Er erinnerte sich an die Reaktionen. Die Blicke, die er sich wegen dieses Ausrutschers eingefangen hatte. Früher hatte Orion das Tattoo geliebt, heute hasste er es. Es hätte ihm schon viel früher klar sein müssen, dass er nicht das Recht darauf hatte, ein Zeichen für sich selbst zu setzen.
Als Kind hatte er sich oft Aufzeichnungen angesehen, Bilder einer Welt, die noch nicht von der Stadt verschluckt worden war. Doch Orion hatte sie nie kennenlernen dürfen. Ihm waren nur all die Gebäude bekannt, welche sich gnadenlos Reihe um Reihe in die Ferne erstreckten. Sie würde auch am Horizont nicht aufhören; würden es niemals tun. Die Stadt war alles, was ihnen geblieben war; mit ihren Wolkenkratzern und Ruinen.
Wie viel davon gehörte bereits ihm?
Er konnte es nicht einmal sagen. Alles nur Zahlen auf Konten und Dokumenten. Solange unwichtig, bis sie nicht alles beinhalteten, was es dort draußen gab. Irgendwann würde die Stadt mit all ihren Bewohnern, Häusern und Lichtern ihm gehören und niemanden sonst.
Was würde er dann tun? Für eine Nacht, die ihm alleine gehören würde, all die blendenden Lichter seiner Welt löschen?
Nein, er würde sie nicht nur für einige Stunden verbannen. Wenn Orion je die Gelegenheit dazu bekäme, würde er sie für die Ewigkeit ausknipsen. Bis dahin musste er sich gedulden. Etwas, in dem er geübt war.
Langsam wanderten seine Augen ein letztes Mal über die vom Regen verschluckte Skyline in der Ferne und blieben dann erneut an seinem Spiegelbild hängen. Sein Gesicht verriet keine Regung. Seit Jahren lachte und weinte Orion nur auf sein eigenes Kommando. Die eigene Körperbeherrschung hatte er in stundenlangem täglichen Training perfektionieren müssen.
Man stieg nicht ohne weiteres in die Elite auf.
Man gehörte nicht einfach so zu den Besten.
Orion hatte seinen Preis gezahlt und deswegen all seine Konkurrenten geschlagen, Träume zerstört und Leben zertrümmert. Und er hatte gesiegt.
Welch ein bedeutungsloser Triumph.
Langsam blinzelte der junge Mann, bemerkte erst jetzt, dass seine Hand noch immer gegen die gläserne Scheibe gepresst war. Er spürte kaum mehr Gefühl in seinen Fingern. Langsam ballte Orion die Finger immer und immer wieder zur Faust. Im Glas war der leichte Abdruck seiner Handfläche zu sehen. Verärgert kniff er die Augen zusammen und wandte sich ab. Ohne einen Blick zurück zu werfen, eilte er den Gang entlang, während seine Schritte laut in der Stille widerhallten.
Eine letzte Rolle hatte Orion noch zu spielen, dann würde er der König dieser toten Welt sein. Beinahe freute er sich sogar darauf. Wenn er in die Persönlichkeit eines anderen schlüpfte, konnte er vergessen, wer er eigentlich war. Konnte so tun, als wäre er mehr als eine abgestumpfte Melodie.
Mit seinem charmantesten Lächeln auf den Lippen trat er elegant durch eine schwere Holztür.
Orion betrat das Spielfeld seiner sterbenden Welt aufs Neue.
Wann würde er begreifen, dass er nur ein weiteres Bauernopfer unter vielen war?
Ein einzelner verlöschender Stern am Nachthimmel.