Abschied


Authors
Shahar
Published
1 year, 5 months ago
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Rowans nachdenklicher Blick verfing sich im dunklen Nachthimmel. Er kannte viele der Sternbilder dort oben beim Namen, obwohl sie nie eine sonderlich große Faszination auf ihn ausgeübt hatten.
Dorian hingegen liebte die Himmelskonstellationen, ihre Lichter und die Tatsache, dass sie sich im stetigen Wandel befanden.
Wahrscheinlich würde auch Dorian diese Nacht unter freiem Himmel verbringen und dieselben Sterne betrachten.
Irgendwann wanderten Rowans Aufmerksamkeit in die Tiefe. Hinab in die gähnende Leere des Abgrunds. Die Stadt mit all ihren farbigen Lichtern erstreckte sich unter ihm wie ein Meer aus Glühwürmchen. Sie lag ihm zu Füßen; eine ganze Welt, die sich in dieser Nacht nur vor ihm verneigte. Bis er Dorian begegnet war, hatte er nie die Schönheit dieses Ausblicks erkannt.
Nur weil er alleine war, unbeobachtet von all den neugierigen Augenpaaren, erlaubte Rowan sich, seine Augen für einige Momente zu schließen. Ein Seufzen, gleichzeitig voll Melancholie und Resignation, entwich seinen Lippen. Er stützte seinen Kopf auf seine rauen Handflächen, versuchte sich im Augenblick zu verlieren. Wie sehr er sich wünschte, er könnte sich auf nichts als den beißenden Wind oder die sanfte Kälte konzentrieren. Aber die Gewissheit, dass mit Anbruch des nächsten Tages nichts mehr so sein würde wie zuvor, erfüllte ihn voll und ganz. Dieses Gefühl nagte an seinem Verstand, verzehrte seine Geduld, trieb ihn mit jeder Minute mehr in den Wahnsinn. Oh, er wollte schreien; hinein in die Finsternis, die jeden Laut verschlucken würde.
Aber Rowan wollte die Kontrolle nicht noch weiter abgeben. Er konnte es nicht über sich bringen, noch mehr Schwäche zu zeigen, seine ohnehin schon bröcklige Fassade weiter einzureißen. Er vergrub seine Hände in seinen braunen Haaren. Nichts als pure Verzweiflung sprach aus der Geste. Dorian würde ihn auslachen, ihn dafür verspotten, dass gerade er ein so jämmerliches Bild abgab. Natürlich hätten sie beide geschmunzelt, im Wissen, dass Dorian nur versuchte, ihn aufzuziehen.
Rowan zog die Beine an den Körper, sie baumelten nun nicht länger über dem Abgrund, und verschränkte seine Arme auf seinen Knien. Langsam ließ er seinen Kopf sinken, als könnte er die Last all der Gedanken, Überlegungen, endlosen Grübeleien nicht mehr tragen.
Wie oft er Dorian so gesehen hatte, am Rande eines Daches sitzend, während ihn nur ein Windhauch vom freien Fall trennte. Und mit diesem Lächeln im Gesicht. Diesem verdammten Lächeln, das nur Dorian gehörte. Verrückt, schalkhaft und frei.
Dieses Lächeln, dem Rowan beim Verlöschen zuschauen musste.
Nun versuchte er sich selbst an einem Grinsen, zog seine zitternden Mundwinkel nach oben. Es erforderte mehr Anstrengung als es sollte. Gleichzeitig fühlte er das bittersüße Gefühl von unendlicher Traurigkeit in sich aufsteigen. Er konnte sie nicht länger zurückhalten. Nach Wochen brach sie nun unaufhaltsam aus ihm heraus. Wässrige Perlen tropften von seinen dunklen Wimpern auf seine Beine. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als ihm bewusstwurde, dass er es nicht schaffte, die Kontrolle wiederzuerlangen. Er wollte seinem Körper befehlen, sämtlichen Schmerz von sich wegzuschieben, den Fokus aufrecht zu erhalten. Aber er scheiterte kläglich daran. Diese Erfahrung verabscheute er fast noch mehr als die Wehmut, denn Rowan war es nicht gewohnt zu versagen.
Sein messerscharfer Verstand war so gut darin, jedes Mal aufs Neue die beste Lösung für eine Situation zu finden. Nie war er einer Herausforderung wie der diesen begegnet. Er wusste, dass es keinen Ausweg gab, der ihm gefiel. Genauso wie er bereits wusste, was er tun würde. Und dafür hasste er die ganze Welt in dieser Nacht.
Irgendwann versiegten seine Tränen, ließen ein hohles Gefühl in seinem Inneren zurück, während der Wind seine brennenden Augen kühlte. Rowan fühlte sich wie ein wundes Tier, unfähig, etwas gegen seine Situation zu unternehmen. Dahin war seine Maske voll von kühler Berechnung. Seine aufgesetzte Unfreundlichkeit, die Distanziertheit, die Arroganz.
Dorian hatte sich ohnehin nie von ihm täuschen lassen. Schon bei ihrer ersten Begegnung war dem Blonden wohl klar gewesen, dass Rowan ein begnadeter Lügner war und sowohl anderen als auch sich selbst meisterhaft etwas vormachen konnte. Und dass alles, obwohl nie eine einzige Unwahrheit Dorians Lippen verließ. Verzweiflung kroch abermals in Rowan hoch.
Er erinnerte sich an die unglaubliche Intensität in Dorians grünen Augen, die ihn nie loslassen würde. Doch auch die Seelenspiegel seines Freundes hatten in den letzten Monaten an Glanz verloren. Als würde eine exotische Blume verwelken, weil man sie nicht richtig pflegte.
Jetzt schrie Rowan tatsächlich, ließ seinen Schmerz hinaus in die Nacht. Heute würde er eingehüllt im Mantel der Dunkelheit schwach sein. Nur dieses eine Mal.
Dorian war ein Freigeist, eine Seele, die sich nach der Ferne sehnte. Er liebte das Unbekannte, liebte Orte und Menschen, denen er noch nie begegnet war.
Dorian war der Tänzer am Abgrund, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht dem Tod selbst ins Gesicht blickte. Er vergötterte Gefahren, das Adrenalin in seinen Adern. Er brauchte all das, um sich lebendig zu fühlen. Um sich daran zu erinnern, dass sein Herz nach wie vor im Takt zur Musik der Welt schlug.
Wie töricht, dass sie beide auch nur für einen Moment geglaubt hatten, er könne sich für Rowan einschränken. Sie hatten alles versucht, waren viel gereist, hatten so wenig Zeit wie möglich am selben Ort verbracht. Aber Dorian standen keine Ketten, keine Einschränkungen.
Es machte den Blonden krank, wenngleich Rowan nicht wusste, ob dieser es selbst bemerkte. Im Gegensatz zu Dorian war es ihm aufgefallen, immerhin war Rowan schon immer ein ausgezeichneter Beobachter gewesen.
Er sah jeden Tag wieder, wie Dorian seltener lachte, weniger strahlte und sich selbst verlor. Das musste ein Ende haben und es lag an Rowan diesen Schlussstrich zu ziehen.
Dorian würde ansonsten bleiben, wegen ihm. Obwohl er daran früher oder später unweigerlich zerbrach. Wie ein Vogel im Käfig, der sich beim wiederholten Versuch zu entkommen, die kleinen Flügel brach. Egal wie golden die Gitterstäbe waren, ein Gefängnis würde immer ein Gefängnis bleiben.
Dorian würde niemals etwas mehr lieben als seine Freiheit. Nicht einmal Rowan.

Es war schwieriger, nun, da er ihm gegenüberstand. Der Himmel des anbrechenden Morgens brannte über ihnen wie ein Feuer, das bereit war, ihre bekannte Welt zu verschlingen.
„Du hast geweint“, Es war keine Frage, die Dorians Mund verließ, sondern eine Feststellung. Seine Stimme hatte eine seltsame Färbung angenommen, die Rowan für unterdrückte Sorge hielt. Ihm wurde schwer ums Herz, während er nur leicht nickte.
Als er sich dabei ertappte, wie er den Blick senkte, fixierte er sofort Dorians Augen. Eisblau begegnete waldgrün. Und Rowan waren so unendlich nah daran, sich zu verlieren. So nah. So unendlich nah. Und dennoch setzte er alles daran bis zum Ende stark zu bleiben.
„Wir hätten schon längst reden müssen“, begann er und hörte wie seine Stimme brach. Natürlich würde Dorian es auch hören.
„Das hier ist ein Abschied“, so zittrig hatte Rowan seinen Freund noch nie reden hören.
„Ich möchte, dass du wieder hinaus in die Welt gehst, ferne Orte bereist, namenlose Städte besuchst …“ … und wieder zu dir findest. Er brachte die Worte nicht heraus. Wahrscheinlich waren sie nicht einmal nötig, Dorian würde es auch so verstehen. Rowan lächelte schwach. In Dorians Augen schimmerte nasse Traurigkeit. Sie konnten einander ansehen, dass jeder auf seine Weise nach Worten suchte. Worte, die all ihren wirren Gedanken gerecht werden sollten.
„Du hast recht, Rowan“, die Wahrheit hing schwer zwischen ihnen, „Ich muss weg von hier.“ Rowan hatte gelernt in Dorians Gesicht zu lesen und der Schmerz darin war kaum zu übersehen. Es zerriss ihn in diesem Wimpernschlag, aber der Blonde würde darüber hinwegkommen. Genauso wie Rowan selbst.
Wer wen in die Umarmung gezogen hatte, wusste Rowan nicht. Wie zwei Ertrinkende klammerten sie sich aneinander. Sie suchten verzweifelt nach Halt, den sie vielleicht nie wieder finden würden.
Dorian war ein Stück größer als Rowan, der sein Gesicht an der Schulter des Blonden vergrub. Er würde alles an ihm vermissen, seinen Geruch, seine Gegenwart, ihre langen Gespräche. Sein Lächeln. Rowans Atem ging unregelmäßig, weil er die Tränen erneut zurückhielt, während sein Herzschlag immer wieder unbeholfen aus dem Takt stolperte.
„Du weißt, wo du mich finden kannst“, wisperte er leise, „Wir sehen uns wieder. Spätestens im nächsten Leben.“
„Spätestens im nächsten Leben“, er hörte die Andeutung von Dorians Lächeln aus seinen Worten heraus.
Zittrig fuhr Rowan über Dorians Schultern, wo sich unter dem Stoff tintenschwarze Muster entlangzogen. Er dachte daran, wie oft er an den Konturen der Schwingen mit den Fingerspitzen entlanggefahren war.
Dorian küsste ihn ein letztes Mal, bevor sie sich voneinander lösten. Trotz des Schmerzes glomm ein kleiner Funke in Dorians Augen auf. Rowan lächelte, denn er hatte trotz allem die einzig richtige Entscheidung getroffen. Er hatte ein verlöschendes Feuer neu entfacht. Vielleicht würde es eines Tages noch heller brennen als je zuvor.
Dorian schenkte ihm ein Lächeln, das mehr aussagte als alle Worte es je könnten. Rowan bemerkte die freudige Erwartung darin; die Vorfreude auf alles, was er von nun an kennenlernen würde. Die Erleichterung. Die Trauer.
Rowan wusste, dass er ihm nicht so bald erneut begegnen würde. Dafür kannte er den Blonden zu gut. Aber das war okay, denn es würde Dorian helfen zu heilen.
Dorian wandte sich nicht erneut um, als er einem fremden Horizont entgegeneilte.