Freier Fall


Authors
Shahar
Published
1 year, 5 months ago
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494

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Dunkelheit

Normalerweise strahlte Dorians Lächeln, als hätte er das Sonnenlicht darin eingefangen. Und er lebte, als würde es kein Morgen mehr geben. Dorian dachte nicht an die Vergangenheit und nicht an die Zukunft, nicht an Reue oder Konsequenzen.
Zumindest nicht, bis sie ihn einholten.
Es gab Tage, an denen sein helles Lachen nicht reichte, um die Dämonen in seinem Inneren zu vertreiben, zu bändigen. Tage, an denen er sie nicht in Schach halten konnte, an denen sie ihn überwältigten. Ihn in die Tiefe zerrten und ihm eiserne Ketten anlegten.
Dorian träumte oft vom Fliegen, aber manchmal waren seine Gedanken so dunkel, dass er sich nicht erinnern konnte, wie der Himmel aussah. Wenn die Finsternis sein Herz verschlang, konnte er nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nicht mehr atmen. Er stürzte in die endlose Tiefe, weil er selbst die Schwingen auf seinem Rücken vergaß. Die schwarze Tinte würde ihn zwar nicht auffangen können, aber sie könnte ihn doch daran erinnern, wer er war. Und wer er sein konnte.
Aber wenn Dorians Dämonen ausbrachen, ließen sie sich nicht einfach wieder einsperren. Sie hafteten ihm an wie sein eigener Schatten. Begleiteten ihn auf Schritt und Tritt. Nichts drang dann zu ihm durch. Weder Rowans Stimme, noch die Schönheit der Welt.
Nur Dunkelheit. Alles verschlingende Dunkelheit. 


Freier Fall

Wenn Dorian spürte, wie die Dunkelheit erwachte, wie sie an ihm zerrte, dann ließ er sich fallen.
Auch in diesem Moment blickte er dem Abyss entgegen, während Millionen von Sterne am Nachthimmel über ihm funkelten. Er spürte den kalten Nachtwind, der ihm durch die offenen Haare fuhr, ihn dazu aufforderte, mit ihm zu tanzen. Und er hörte die Lichter der Stadt unter ihm zu ihm singen. Sie lockten ihn, einen Schritt näher zu treten, einen Schritt in Richtung des Abgrunds zu tun. Dorian fröstelte, während seine Füße über der Leere baumelten. Er saß am Rande des Hochhauses, erschöpft und ausgelaugt von den tausend Treppenstufen, die er erklommen hatte.
Und doch war er zum ersten Mal seit Tagen wach.
Sein Herz pochte, stolperte immer wieder aus dem Takt, und doch war es so lebendig. Dorian fühlte die Müdigkeit all seiner Glieder, die nach Ruhe verlangten. Jede Faser seines Körpers schrie nach einer Pause.
Aber Dorian lächelte nur in die Nacht hinein. Er dachte nicht daran, innezuhalten. Langsam richtete er sich auf, ließ die Luft in seine schmerzende Lunge strömen.
Zum ersten Mal seit Tagen konnte er atmen.
Sehnsucht lag in seinen grünen Augen, als er in die Ferne blickte, hin zum Horizont. Seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern, als schwere Gedanken in seinen Verstand krochen. Sie ließen ihm keine Ruhe, egal wie schnell er rannte, um ihnen zu entkommen.
Dorian drückte sich vom harten Boden ab und sprang.
Zum ersten Mal seit Tagen konnte er fühlen.