III. Meeting the Esk


Authors
Shahar
Published
1 year, 1 month ago
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1905

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Eve’s blaue Augen waren gedankenverloren auf die Themse geheftet.
Wie von selbst hatten ihre Füße sie hierhergeführt; an einen Ort, der sie vor den Augen aller verbarg, die selbst zu so später Stunde noch auf den Beinen waren. An einen Ort, der in diesem Wimpernschlag nur ihr alleine gehörte.
Der milde Duft von Rhododendron hüllte die junge Frau ein und zauberte den Hauch eines Lächelns auf ihre blassen Lippen. (Wann hatte sie zuletzt gelächelt?) Tatsächlich waren es die rosa Blüten gewesen, welche Eve dazu veranlasst hatten, das schmiedeeiserne Tor des kleinen Hinterhofs aufzustoßen. Sie hatte sich sogar einen Moment Zeit genommen, die filigranen Musterungen im schwarzen Eisen zu betrachten und bedächtig darüber zu fahren; über geschwungene Linien und florale Formen. Ein vergessenes Kunstwerk, dem die meisten Menschen keinen zweiten Blick widmeten.
(Doch selbst nach so langer Zeit unterschied Eve sich noch von den meisten.)
Obwohl sie versucht hatte, das alte Tor vorsichtig zu öffnen, hatte sie das laute Quietschen nicht verhindern können. Ertappt war ihr Blick umhergewandert, doch niemand hatte von ihr Notiz genommen. Niemand war zugegen. (Warum fühlte sie sich dann beobachtet?)
Einzig die Dunkelheit leistete ihr Gesellschaft, als sie sich am Ufer niederließ. Die Dunkelheit und das unaufhörliche, fortwährende, ewige Plätschern der Themse. Sanft schwappte das Wasser gegen die steinerne Begrenzung des Flusses. Es wisperte ein Lied für aufmerksame Zuhörer; beruhigend, einlullend. Eve bemerkte die Kälte kaum, die langsam aber sicher in ihre Glieder kroch. Eine Brise ließ die junge Frau leicht frösteln; sie hatte es versäumt, einen Mantel mitzunehmen.
Eve schloss ihre Augen und hörte eine Weile nur zu. Der stetige Fluss des Wassers schaffte es selbst jetzt noch, ihren müden, müden Geist zu besänftigen. Doch auch um diese Uhrzeit schlief die Stadt nicht; London legte sich nie zur Ruh. In der Ferne durchbrach eine Sirene die Stille. Das Brummen von Fahrzeugen verstummte nicht. Eve‘s Mundwinkel sanken immer weiter nach unten. Sie ertrug den Lärm nicht mehr, sie ertrug ihn keine Sekunde länger. Pure Verzweiflung trieb sie dazu, ihre Hände auf die Ohren zu pressen. Sie wollte die Stadt nicht sehen, sie wollte die Stadt nicht hören. (Sie hielt es nicht mehr aus, sie wollte weg von hier.)
Ein paar Straßen entfernt erklang Gelächter. Mehrere Stimmen verschmolzen zu einer einzigen. Schritte ertönten und hallten durch die Gassen. Hohe Schuhe auf Kopfsteinpflaster. Laut, so laut. Angst bohrte sich in Eve’s Herz, obwohl sie nichts zu befürchten hatte. Niemand würde sie in der undurchdringlichen Finsternis entdecken. Dass sie die Luft angehalten hatte, bemerkte Eve erst, als die Geräusche wieder verklungen waren. Sie atmete lange aus und zog die Beine an, um ihren Kopf darauf abzustützen.
Das fahle Licht des Mondes spiegelte sich im dunklen Flusswasser. Und ließ es glitzern, als wären tausend Sterne darin versunken. Oder ertrunken. (Eve fühlte sich, als würde sie ertrinken.)
Manchmal, wenn Eve die Themse so betrachtete, fragte sie sich, welche Schätze auf deren Grund lagen. Welche Reichtümer sammelte ein Fluss, der eine Stadt jahrhundertelang durchfloss? Welche Geheimnisse versteckte er? 
Es gefiel Eve, sich auszumalen, dass die Strömung Geschichten von weit her zu ihr trug. Und das Säuseln ihr von fremden Orten erzählte.
Denn alleine in ihren Gedanken konnte Eve London hinter sich lassen und auf imaginären Schwingen dem Horizont entgegensegeln. Bis die Gebäude klein und unbedeutend waren. Bis die Stadt nur noch eine ferne Erinnerung war. Aber das Ende jeden schönen Traums war die bittere Realität.
Eve erhob sich vom kühlen Pflaster und trat ein wenig näher an die Themse heran. Der Vollmond verfing sich in ihren blauen Seelenspiegel, die in dieser Nacht fast so dunkel waren wie das Wasser. Sie fand einen Penny in ihrer Hosentasche. Die Münze beschrieb einen glitzernden Bogen, als Eve sie in den Fluss warf.
Ob ihn eines Tages jemand finden wird? Ob jemand sich fragen würde, welche Geschichte er verbarg?
Wohl nicht
, gab sie sich selbst die Antwort. Und doch war sie froh, dem Fluss etwas zurückgegeben zu haben. Einen Teil von sich zurückgelassen zu haben, der nun in den stillen Tiefen versank. (Zusammen mit den Sternen.)
Eve’s schwaches Lächeln kehrte zurück. Die Erschöpfung, die sie auf Schritt und Tritt verfolgte, konnte es allerdings nicht verbergen. Nichts konnte die Erschöpfung verbergen, nichts. Sie schien beinahe schon zu einem Teil von Eve’s Seele geworden zu sein. Einem Teil, den sie allzu zu gerne abschütteln würde. Oh, wenn sie es doch könnte!
In dieser Nacht schien es beinahe im Bereich des Möglichen zu sein. Unter dem grenzenlosen Sternenzelt schien alles möglich zu sein. Die junge Frau legte ihren Kopf in den Nacken und blickte hinauf zum Himmel. Die blassen Sterne waren kaum sichtbar, das grelle Licht der Stadt überschattete sie, einzig der Vollmond trotzte selbst Londons Helligkeit. Der Mond schien nah zu sein, nur einen Katzensprung entfernt. Und Eve streckte ihre Finger nach dem leuchtenden Himmelskörper aus, als könnte sie ihn tatsächlich erreichen, berühren. Erst nach einer Weile ließ sie ihre Hand wieder sinken. In ihrer Kindheit hatte sie zum selben Himmel aufgeblickt.
Traurigkeit und Melancholie schlichen sich Seite an Seite in ihre Augen. Trotzdem fühlte sich ein lange vergessener, lange unterdrückter Teil von ihr lebendig, erwacht.
Wann sie sich das letzte Mal so befreit, so frei von allen Lasten gefühlt hatte, wusste Eve nicht mehr. (Es war lange her, sehr lange.)
Traurigkeit erfüllte Eve’s Herz; ein Gefühl, das sich lange in ihrem Inneren aufgestaut hatte und jetzt hervorbrach wie Wasser aus einem durchbrochenen Damm. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter und tropfte zu Boden. Weitere nasse Perlen schlossen sich an. Sie folgte ihnen mit ihrem Blick. Im Schutze der Dunkelheit erlaubte Eve sich um ihre verlorenen Träume zu weinen. Um ein Leben, das sie sich jahrelang ausgemalt hatte. Um ein Leben, welches sich als Illusion herausgestellt hatte. Könnte es doch nur wahr sein. 
(Ihr Glaube war einst so stark gewesen, sie hätte gedacht es wäre in Reichweite.)
Nun musste sie sich eingestehen, dass es das nie gewesen war. Dass sie von einem Traum verführt worden war. Ein Traum, der sich in kürzester Zeit zum Albtraum gewandelt hatte.
Eve wollte zurückkehren in ihr kleines Dorf auf dem Land, zu ihrer Familie. Zu ihrem Zuhause – denn das war es noch, sogar nach all der Zeit, die sie in London gelebt hatte. Doch sie wusste, dass es für eine Rückkehr zu spät war. Als sie den Abschiedsbrief auf ihr Bett gelegt hatte, war ihr klar gewesen, dass es kein Zurück gab. (Und wie sollte es das auch geben? Wie sollte sie ihrer Familie - ihrer Mutter und ihrem Vater - wieder unter die Augen treten, nach all den Jahren?) Sie hatte die Entscheidung getroffen, ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen und ihr Leben zu verändern. Zum Besseren. Oder zum Schlechteren.
Eve senkte geschlagen den Kopf. Vielleicht hätte sie härter arbeiten oder bessere Leistungen erbringen müssen. Vielleicht hätte sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein müssen. Vielleicht hatte es nur diesen einen Weg für sie gegeben. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Aber jetzt war es zu spät. Ihre Brust zog sich bei diesem Gedanken schmerzhaft zusammen. Viel zu spät. Noch eine Träne löste sich, im Mondschein schimmerte sie silbern.
Egal wie sehr sie es versuchte, Eve schaffte es nicht mehr, die Emotionen in ihrem Inneren unter Kontrolle zu halten. Ein leiser Schluchzer entwich ihr und verklang in der Dunkelheit der Nacht. Sie sank auf die Knie und blinzelte dem Silbervlies entgegen, wo eine Sternschnuppe ungesehen verglühte. Und etwas in ihr zerbrach in tausend Splitter. (Wie hatte es bis jetzt noch zusammengehalten? Wie nur?)
Eve war in einer Sackgasse angelangt und wusste nicht weiter.
Und es gab niemanden außer dem Mond, der ihr zuhörte, der ihr Leid anhörte. (Niemanden?)
Zu Eve’s Glück war der Mond ein guter Zuhörer und so erzählte sie ihm mit rauer Stimme ihre Geschichte.  
Eine lange, lange Geschichte.
Sie erzählte von einem jungen Mädchen mit bunten Blumenkränzen in den langen Haaren, das freudig über Felder und Wiesen tollte. Kindlich, verspielt, unschuldig.
Sie erzählte von einer heranwachsenden Frau, die von der großen weiten Welt träumte. Ehrgeizig, hoffnungsvoll, rebellisch.
Sie erzählte vom Tag, an dem sie sich dazu entschieden hatte, alles Bekannte hinter sich zu lassen und vollkommen neu anzufangen. Aufgeregt, furchtsam, zuversichtlich.
Und sie erzählte von ihrem Leben in der Stadt. Von einem Leben, das sie gebrochen hatte. Trist, monoton, grau.
Als sie am Ende ihrer Geschichte angelangte, waren ihre Tränen versiegt. Die Nachtluft kühlte ihre brennenden Augen, während das Licht des Mondes die Leere in ihrem Inneren füllte. Der Tonfall in ihrer Stimme war nüchtern gewesen, als würde sie über eine andere Person und nicht sich selbst sprechen. Als wäre sie im Grunde gar nicht betroffen. (Wie schön das doch wäre …)
Eve wusste, dass sie in ihre Wohnung zurückkehren und diesen Ort hinter sich lassen sollte, aber sie hatte keine Kraft mehr aufzustehen, keine Kraft mehr weiterzumachen. Ihr Kampfeswille war erloschen wie eine Flamme im Wind, ihre Freude war in der schweren Traurigkeit ertrunken.
Aber die Welt hielt nicht inne, um Eve zu bedauern.
Die Sterne glitzerten weiter; unbarmherzig.
Der Fluss plätscherte weiter; teilnahmslos.
Der Blüten dufteten weiter; desinteressiert.
Die Welt drehte sich weiter; gleichgültig.
Nur der Mond erhöhte Eve’s Flehen. Nur der Mond.
Das Wesen betrachtete sie aus blauen Seelenspiegeln heraus. Blumen sprenkelten seinen Rücken in blau und rot. Beinahe wie Blutstropfen im Schnee. Das gescheckte, helle Fell glich dem Antlitz des Mondes selbst.
Eve wagte es nicht, den Blick abzuwenden. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie wäre gar nicht in der Lage dazu gewesen; zu sehr schlug sie der Anblick der eleganten Kreatur in den Bann. Sie erwiderte den Blick, ihre Augen waren noch immer vor Überraschung und Unglauben geweitet.
(Wie lange war sie schon aus den Schatten heraus beobachtet worden?)
Das Wesen bewegte sich in ihre Richtung, leichte Pfotenschritte auf hartem Boden. Es war unwirklich, überweltlich, fremd. Und doch sanft wie das Mondlicht selbst.
Eve versuchte nicht zu blinzeln; als glaubte sie, die Erscheinung würde verschwinden, sobald sie den Blick abwandte. Nun, mit den dünnen Beinen und dem traurig gesenkten Kopf wirkte es in der Tat fragil, flüchtig.
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.
Es fiel Eve schwer, die Fassung zu bewahren. Sie konnte ja nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, ob sie nicht womöglich schon in ihrem Bett lag und von fernen Welten träumte. Ihre Gedanken wurden mit jedem Herzschlag zäher. Bis sie die Welt um sich herum vergaß; bis sie alles vergaß, außer die Gesandte des Mondes.
Eve verstand nicht, dass Lunae im Begriff war, ihr ein neues Leben zu schenken.
Ein neues Leben, um das sie nicht gebeten hatte.
Und das sie an die Stadt fesseln würde, die ihr so verhasst war.
So unendlich verhasst.