Derselbe Himmel


Authors
Shahar
Published
1 year, 11 days ago
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Dorian lag auf dem Dach eines rostigen Autos und blickte dem endlosen Sternenhimmel entgegen. Und er verlor sich in dessen lichterdurchsetzten Weite, bis er glaubte, sie würde zurückstarren. Geradewegs bis in die Tiefen seiner Seele.
Er bemerkte Rowan erst, als dieser sich mit einem Seufzen neben ihm niederließ. Der Braunhaarige war es längst gewohnt, mitten in der Nacht nach Dorian suchen und ihn an den abwegigsten Orten aufzufinden.
„Ich wollte dich nicht wecken“, die Worte des Blonden waren kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich weiß“, Rowans Stimme klang sanft, viel sanfter als bei Tag. Seine Augen wirkten in der Dunkelheit beinahe schwarz, als hätten sie die Finsternis zwischen den Sternen eingefangen.
„Albträume?“
Dorian nickte kurz und setzte sich langsam auf. Es war keine Seltenheit, dass er schweißgebadet oder schreiend aus seinen Träumen erwachte. Wahrlich keine Seltenheit.
Schweigend ließ Rowan seinen Kopf auf Dorians Schulter sinken. Eine Weile lang hingen sie ihren eigenen Gedanken nach, ohne zu sprechen. Dorians Blick war auf den Horizont geheftet, während Rowans Augen geschlossen waren.
„An was denkst du?“
Dorian blinzelte, er brauchte mehrere Sekunden, um zu antworten. Abwesend griff er nach Rowans Hand, sie war ein wenig rauer als seine eigne.
„Ich denke an die Sonne. Daran, dass sie in wenigen Stunden aufgehen und den Himmel in bunte Farben tauchen wird. Und ich denke an den Mond, der uns heute keine Gesellschaft leistet – ich vermisse sein Licht.“ Es lag eine gewisse Traurigkeit in Dorians Worten, Rowan lächelte dennoch schwach. „Und ich denke an dich“, nun gewann auch Dorians Lächeln an Intensität, seine grünen Augen schienen sogar in der Dunkelheit der Nacht zu strahlen. Rowan kniff ihn leicht in die Seite.
„Du hast gefragt“, Dorian zuckte mit den Schultern, sein Grinsen wurde ein wenig breiter.
Rowan verdrehte seine Augen amüsiert, bevor seine Stimme wieder ernster wurde.
„Wovon hast du heute geträumt?“ 
Kurz wich Dorian dem Blick seines Freundes aus, sein Blick flatterte unruhig umher.
„Vom Fallen. Einem endlosen Fall in die tiefste Dunkelheit“, tonlos verließen die Worte den Mund des Blonden.
Wie ein gefallener Engel stürzte Dorian Nacht für Nacht vom Himmel. Manchmal genoss er es. Manchmal, wenn sich fallen wie fliegen und fliegen wie fallen anfühlte.
„Wird es jemals enden?“
Eine Frage, die selbst Rowan nicht beantworten konnte.
Als Antwort zog er Dorian nur an sich und hielt ihn fest. Als würde er ihn nie wieder loslassen wollen. (Oh, das wollte er auch nicht.)
Rowan spürte, wie Dorians Hände sich fast schon in seinen Rücken krallten; aus Angst selbst jetzt noch den Halt zu verlieren. Aus Angst, dass auch die Realität von einem Wimpernschlag auf den nächsten nichts als ein böser Traum sein könnte.
Es schmerzte Rowan, Dorian so zu sehen. So verloren, so verwirrt. Und es schmerzte ihn noch mehr, dass er nichts dagegen tun konnte. Dass er hilflos zusehen musste, wie der Blonde gegen unsichtbare Dämonen kämpfte. (Und dabei nicht immer den Sieg davontrug.)
Jedes Mal, wenn Rowan erwachte und Dorian nicht neben sich vorfand, machte er sich Sorgen. Er machte sich Sorgen, dass Dorian ohne ihn aufgebrochen war. Dass er vor der Dunkelheit in seiner Seele davongelaufen war. Zu einem Ort, an dem Rowan ihm nicht folgen konnte. (Er fürchtete sich vor diesem Augenblick, er fürchtete sich so sehr.)
Dorian würde Rowan gerne versichern, dass dessen Sorgen unberechtigt waren. Wie gerne er das tun würde, wie gerne. Aber die Worte kämen ihm niemals über die Lippen. Dafür kannte er sich selbst und seine Launen viel zu gut.
„Ich bin hier“, hauchte er stattdessen an Rowans Ohr, „Jetzt, in diesem Augenblick.“ 
Ist das nicht alles, was zählt?
„Ja …“, Rowans klang tonlos und presste Dorian ein wenig fester an sich. Seine Hände begannen wie von selbst zu zittern. Behutsam fuhr Dorian mit seinen Fingern durch Rowans braune Strähnen. Um ihn zu beruhigen, um ihm Trost zu spenden.
„Ich werde immer zu dir zurückkehren“, versprach Dorian leise, aber nachdrücklich. Er wusste, dass Rowan fürchtete, man könnte ihn zurücklassen. Wie eine frisch geschlagene Wunde prangte die Angst vor Verlusten noch immer auf seiner Seele. Eine Wunde, die Dorian nicht heilen konnte. Eine Wunde, die womöglich niemals heilte.
Rowan rang um Fassung, die er nicht finden würde.
„Und wenn ich nicht bei dir bin - bei dir sein kann -, dann erinnere dich daran, dass ich jede Nacht meinen Blick gen Himmel richte. Es wird derselbe Sternenhimmel sein, der auch über dir funkelt“, murmelte Dorian, er strich sacht über Rowans Handrücken, „Derselbe Himmel.“