Unser Lied


Authors
Shahar
Published
1 year, 9 days ago
Stats
1001

Theme Lighter Light Dark Darker Reset
Text Serif Sans Serif Reset
Text Size Reset
Author's Notes

Glenn dachte an eine Zeit, die weit zurücklag.
An eine Zeit, in der Amy noch lächeln konnte.

Lange hatte es für Glenn nichts Anderes gegeben, als das Leben im grauen Labyrinth der Straßen.
Er hatte keine Eltern gehabt, keine Familie und war vollkommen auf sich alleine gestellt gewesen.
Aber er hatte nie aufgegeben zu hoffen und zu glauben; an eine bessere Welt.
Wie eine zarte Frühlingsblume war unendliche Güte anstatt von Härte und Grausamkeit in seinem Herzen erblüht. Er hatte kein Dach über dem Kopf gebraucht, um voller Freude durchs Leben zu gehen. Selbst wenn er tagelang kaum gegessen hatte, war er noch fähig, der Welt ein Lächeln zu schenken. (Und die Welt lächelte zurück.)
Aber auch für Glenn hatte es Tage gegeben, an denen es ihm schwergefallen war, sein frohes Gemüt aufrecht zu erhalten. Dann hatte er begonnen, auf seiner alten Gitarre zu spielen. Hatte begonnen für die Passanten der endlosen Stadt zu spielen. Für die Verlorenen, für die Traurigen, für die Einsamen. Sie hatten die sanften Klänge des Instruments vernommen; sie hatten gelächelt und geweint. Sie hatten gefühlt.
Manchmal war das alles, was ein Mensch brauchte – die Erinnerung, dass er fähig war, zu fühlen.

Nun konnte Glenn hinabblicken auf die Straßen und Gassen der Stadt, auf sein altes Leben.
Er saß in einer kleinen Wohnung mit großen, gläsernen Fenstern. In einer Wohnung, in seiner Wohnung. Aber sie gehörte genauso wenig zu ihm wie die Anzüge und Krawatten, die neuerdings in seinem Schrank hingen. Nichts davon würde er je wirklich als sein Eigen betrachten können.
Er hatte nie viel gebraucht, um glücklich zu sein. Hatte nie mehr gebraucht, als das Lächeln eines Fremden. Ansehen, Geld und Einfluss waren für ihn bedeutungslos.
Jetzt lebte er an einem Ort weit entfernt von den Menschen, die er so sehr zu schätzen wusste. Jetzt brauchte er sich keine Gedanken mehr machen, wo er am nächsten Tag schlafen konnte und ob er etwas zu essen hatte. Sein Leben war einfacher geworden. (Aber war es auch besser, war es das?)
Glenn lehnte sich an die kühle Glasscheibe und blickte gen Himmel, wo die Sonne dem Horizont entgegenkroch. Es war seltsam für ihn, sehen zu können, wie sich das Blau in der Ferne hellrosa verfärbte. Es war seltsam für ihn, die Ferne sehen zu können.
Seine Welt war größer geworden. Aber auch einsamer, so viel einsamer.

Irgendwann hatte Glenn begonnen Pflanzen in der Wohnung zu platzieren, weil er deren gähnende Leere nicht mehr ertrug. Sie rankten sich fröhlich an hölzernen Regalen empor und hingen aus bunten Töpfen von der Decke. Auf die Pflanzen folgten alte Bücher, die einen eigentümlichen Duft verströmten. Dann strich er die weiße Wand hellbraun an. Wenn er alleine war, schrieb Glenn seine Gedanken darauf nieder. Wörter und Verse. Zeilen, die er Amy später vorsang. Und Zeilen, die nur er selbst entziffern konnte. Neben den Texten sammelten sich Fotos an. Und neben den Fotos Skizzen und Zeichnungen.
Es dauerte lange, bis der Raum sich nicht mehr kalt und abweisend anfühlte, wenn Glenn ihn betrat. Bis er ein Teil von ihm wurde. Sein Zuhause. Und Amys Zuhause.
Sie war oft zu Besuch. So oft, dass sie wie Glenn selbst an diesen Ort zu gehören schien. So oft, dass die Wohnung ohne sie still und farblos wirkte.
Gelegentlich vergaß Glenn, dass Amys Leben vollkommen anders war, als das Seine. Dass sie eine Familie hatte, dass sie an der Spitze ihrer Welt stand.
Wenn Amy neben ihm auf den alten Kissen und Decken seiner Wohnung lag, wenn sie gemeinsam an die Decke blickten, wo Lichterketten wie Sterne zwischen dem Grün der Pflanzen funkelten, dann vergaß Glenn, wie unterschiedlich sie waren. Dann vergaß er.
(Dann vergaßen sie beide.)

Die Musik war etwas, das Amy und Glenn verband. Etwas, das sie beide liebten.
Glenn spielte oft seiner Gitarre und Amy lauschte wortlos. Atemlos. Als hätte sie nie etwas Schöneres gehört oder gesehen.
Es dauerte eine Weile, bis Glenn den Mut fand, in ihrer Gegenwart zu singen. Zeilen, die er selbst zu Papier gebracht hatte. Ein Lied, das er selbst geschrieben hatte. Er war nervös gewesen, nervös und unsicher. Aber Amy hatte ihn angelächelt und gesagt, er hätte eine schöne Stimme. Glenn, unfähig ihr zu antworten, hatte ihr Lächeln erwidert, während sein Herz aus dem Takt gestolpert war.
Und dann, eines Tages, bat er Amy mit ihm zu singen.
Er sah ihren überraschten Blick noch immer vor sich, ihre geweiteten Augen. Ein Hauch von Angst und Zerbrechlichkeit huschte über ihr Gesicht. Emotionen, die er noch nie an ihr gesehen hatte. Doch sie nickte, Entschlossenheit glänzte wie ein Feuer in ihren roten Seelenspiegeln.
Zaghaft begann er zu spielen. Und genauso zaghaft begann er auch zu singen. Altbekannte Zeilen und eine vertraute Melodie.
Als Amy einsetzte, begannen Glenns Fingern zu zittern, bis er die richtigen Saiten kaum mehr traf. Ihre Stimme war wie ein ungeschliffener Diamant. Wie das Tropfen von Wasser. Wie das Fallen eines Blattes.
Glenn hielt den Atem an, schloss die Augen und verlor sich in der Musik.
(Es war das einzige Mal, dass sie gemeinsam sangen.)

Glenn erinnerte sich an die Vergangenheit. Er erinnerte sich.
Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er die Saiten seiner abgegriffenen Gitarre anschlug und ein wehmütiges Lied anstimmte. Seine Stimme erfüllte den leeren Raum mit Farbe, sie war hell und klar wie das Strahlen der Sonne. Und warm, so warm.
Doch selbst wenn Amy hier gewesen wäre, so hätte Glenns Licht die Schatten in ihrem Geist nicht durchbrechen können. Er hätte ihr kein Lächeln (mehr) entlocken können.
(Ob sie jemals wieder lächeln würde?)

Author's Notes