Ebb and Flow


Authors
Shahar
Published
9 months, 16 days ago
Updated
8 months, 19 days ago
Stats
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Chapter 1
Published 9 months, 16 days ago
981

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Chapter 1


Wie ein weißer Schleier legte die Gischt sich über Llyrs dunkle Pfoten. 

Und einen Herzschlag lang formte sie Bilder. (Tausend ungesehene Gestalten.)

Einen Herzschlag lang erzählte sie Geschichten. (Tausend ungehörte Schicksale.)

Und dann zog sich das Wasser zurück, nahm seine Geheimnisse mit sich fort in die tiefsten Tiefen. Ob sie je wieder and Licht kommen würden?

Llyr beugte sich hinab und kniff die Augen ein wenig zusammen. Als die nächste Welle an den Strand brandete, begrüßte ver die zarte Berührung der See auf der Schnauze. Nichts strahlte so viel Ruhe und Geborgenheit aus, wie die vertraute Kühle des Meerwassers. Denn die blaue Weite war schon seit jeher vers Rückzugsort und Heimat gewesen. Eine Heimat, zu der ver immer zurückgekehrt war. Immer zurückkehren würde. 

Der Ozean war zu einem Teil von Llyr geworden. Einem Teil veres Seins. Einem Teil verer Seele. 

Heute brauchte Llyr das Meer (wie ver einst die Luft zum Atmen gebraucht hatte). Und vielleicht - nur ganz vielleicht - brauchte auch der Ozean jemanden wie Llyr: Einen ewigen Wächter und aufmerksamen Beobachter. Jemanden, der beständig blieb inmitten all der Veränderung, all der Bewegung. Denn im Gegensatz zu Llyr wandelte die See sich fortlaufend; nie trug sie dasselbe Gesicht, nie kam sie zur Ruhe. Für sie gab es keinen Stillstand, keine Atempause. 

Ob es ein Funke von Beständigkeit war, nach dem sie sich sehnte?


Llyr hob den Kopf gen Himmel und beugte sich den schwachen Sonnenstrahlen eines anbrechenden Tages entgegen. Sie berührten zärtlich vers gischtfeuchtes Fell und streichelten sanft über vers dunkle Schnauze. 

Llyr wünschte sich, ver könnte die Augen schließen und den Moment, die willkommene Wärme, gänzlich in sich aufnehmen. Oh, wie sehr ver es sich wünschte!

Doch stattdessen blieb veen nichts Anderes übrig, als die schwarzen Augen auf die Sonne zu richten. Schwarze Augen, die zu Spiegeln des Lichts wurden - ganz als hätte sich ein helles Glitzern darin verfangen.

Manchmal fragte Llyr sich, ob die Sonne veen wiedererkannte. Ob sich der gleißende Himmelskörper daran erinnerte, wie viele Jahrhunderte Llyr schon unter ihrem Licht wandelte. (Ob sie wusste, wie lange Llyr noch am Meer entlangschreiten würde? Wie lange ver dazu auserkoren war, über die Küsten der Erde zu wandeln?)


Llyr konzentrierte sich voll und ganz auf die Ruhe des Morgens. Das Rauschen des Meeres, das unruhige Heulen des Windes und das Kreischen der Möwen. Und ver ging auf in diesem eigentümlichen Lied der See. In den Geräuschen, die Llyr tagein, tagaus hörte. Die ver begleiteten auf verer einsamen Reise.

In Momenten wie diesem war Llyr selbst wie ein Fels in der Brandung: Unbewegt stellte ver sich den Fluten entgegen und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen. Vers Augen waren auf den Horizont gerichtet, wo sich dunkle Wolken hoch auftürmten. Ein Unwetter würde aufziehen und Regen auf den trockenen Küstenboden tropfen. Llyr würde es erwarten. Llyr würde warten, bis die Tropfen in Strömen vom Himmel fielen und vers Fell durchnässten. Ver würde warten. Warten bis der Sturm veen erreichte, warten bis der Sturm weitergezogen war. 


Eine Möwe landete neben Llyr und hinterließ beinahe unsichtbare Spuren im Sand, als sie in vers Richtung tappte. Mit neugierig schiefgelegtem Kopf pickte sie interessiert an den grünen Blättern der Pflanze, die aus vers Pfote wuchs. Pickte, bis sie schließlich das Interesse verlor. Llyr rührte sich nicht, verließ vers Starre nicht. Aber der Schimmer in vers schwarzen Augen veränderte sich. 

Ver erinnerte sich an ein anderes Leben.

Ver erinnert sich, wie es gewesen war, Schwingen statt Pfoten zu haben. Und auf die Küste herabzuschauen, mit den Winden zu tanzen und in das raue Lied der See einzustimmen. Ver erinnerte sich noch. Und zu Beginn hatte vers Herz sich noch nach den Lüften verzehrt. Nach dem Gefühl, schwerelos über den blauen Wellen zu segeln. Aber mit der Zeit hat sich Akzeptanz in Llyrs Herzen ausgebreitet. Wie eine Blüte, die eine Weile brauchte, um ihre volle Schönheit zu entfalten. 

Der Ozean hat Llyr wiedergeboren und veen eine neue Gestalt verliehen. Eine neue Gestalt und eine neue Bestimmung. Und wer war Llyr, um sich dem Willen des Meeres zu widersetzen? Nein, ver hat verstanden, dass ver dem Ruf der See folgen musste. 

(Und dem Ruf von vers Herzen.)


Llyrs Augen glitten suchend über die glitzernden Wogen. Ver spürte, dass die See in diesem Augenblick nach veen rief. Dass sie versuchte, zu veen zu sprechen. Ihm etwas mitzuteilen. 

Unruhe erwachte in Llyrs Inneren und wuchs zu Anspannung heran. Sie drängte veen dazu, zu handeln. Sich in Bewegung zu setzen und veren Posten als stummer Beobachter zu verlassen. 

Langsam und bedächtig trugen Llyrs Beine veen an der Küste entlang. Immer weiter und weiter. Einem Ziel entgegen, dass ver (noch) nicht kannte. 

Doch Llyr hatte Vertrauen in das Meer. Vertrauen, so tief wie der Ozean selbst. 

Vers Zeitgefühl verließ Llyr; Sekunden, Minuten oder Stunden vergingen, während ver nichts weiter tat, als eine Pfote vor die andere zu setzen. Wie in Trance.


Irgendwann stieß ein Gegenstand gegen Llyrs Bein - das Wasser hatte ihn unbemerkt herangetragen. Wie zufällig. Als wäre all das nur ein Streich des Schicksals. Als wäre all das bedeutungslos. Aber Llyr wusste, spürte, verstand, dass dem nicht so war. Llyr begriff, dass dieses Objekt für veen bestimmt war. Dass ver dazu bestimmt war, es zu finden.

Als die Gischt sich zurückzog, offenbarte sie allerdings nicht nur einen Gegenstand, sondern drei. 


Einen Stein, so dunkel wie Llyrs Augen. Löchrig und zerklüftet. 

Ein bleicher Knochen, glatt geschliffen von den Launen der See.

Und mattes, grünes Meerglas. Schön und zerbrechlich.