VI. Their Purpose


Authors
Shahar
Published
7 months, 23 days ago
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Das Schlachtfeld war schon alt, uralt, als der Krieger zum ersten Mal einen Fuß darauf gesetzt hatte. 

Tausend Kämpfe waren auf diesem unscheinbaren Boden ausgetragen worden. Und tausend Leben waren erloschen, wie blasse Sternschnuppen in finsterster Nacht. So viele Leben und so viele Geschichten hatten hier ihr Ende gefunden. (Ein bitteres, bitteres Ende.)
Auch das Herz des Kriegers hatte seinen letzten, qualvollen Schlag auf diesem Schlachtfeld getan. Doch anders als bei den anderen Kämpfenden war sein Schicksalsfaden nicht endgültig durchtrennt worden. Der Sand der Zeit war weiter gerieselt, als er, umgeben vom Chaos der Schlacht, auf dem weiten Feld zusammengesackt war. Auf einem Feld, wo so viele vor und nach ihm gestorben waren und sterben würden. Auf einem Feld, das dazu bestimmt war, sein Grab zu werden.
Doch manchmal war ein Ende zugleich auch ein Neubeginn, ein Neuanfang. 

Vielleicht war es dem Krieger vorherbestimmt gewesen, seine Wanderung fortzusetzen. Vielleicht war ihm das Schicksal gnädig. Vielleicht segneten ihn seine Götter. Vielleicht ereilte ihn aber auch einfach nur der Zufall - wer konnte das schon sagen. 

Die Erinnerung an das Blutvergießen verließ den Krieger allerdings nie; selbst in seinem neuen Leben bestand sie fort. Bestand durch ihn selbst fort. (Auch wenn er sich oft nichts Anderes wünschte, als zu vergessen. Endlich zu vergessen.)
Wenn er nun, in neuer Gestalt, über das Feld schritt, erinnerte er sich also an die Vergangenheit. An seine Vergangenheit.
Er erinnerte sich.

An das Blut, das die trockene Erde benetzt hatte, immer und immer wieder. Bis der Regen es hinfort wusch. Der Regen, der vergeblich versuchte, all die Grausamkeit, all das Sterben zu verschleiern. Dabei schaffte er nur neuen Platz; Platz für mehr Blut, mehr Tod, mehr Gewalt.

An die Leben, die er genommen hatte. Und an die Momente, in denen er das seine um Haaresbreite verloren hätte. Der Krieger dachte nach wie vor an den ersten Mann, den er mit eigenen Händen getötet hatte. Er erinnerte sich nicht an dessen Namen oder dessen Gesicht. Er erinnerte sich nur daran, dass ihn dieses Erlebnis in die Knie gezwungen hatte.

An die wirren Gefühle, die ihn erfüllt hatten. Aufregung und Furcht. Euphorie und Angst. Oh, die Todesangst! Sie war zu seiner stetigen Begleiterin geworden. Und ihr fahler Atem in seinem Nacken hatte den Besuch des Sensenmannes bereits angekündigt.
(Der Krieger hatte immer gewusst, wie es enden würde. Hatte es gewusst, seit er den ersten Fuß auf das Schlachtfeld gesetzt hatte.)

An die Toten. Es waren so viele gewesen, dass es unmöglich geworden war, sie zu zählen. Der Krieger hatte in ihre leeren Augen geblickt; Augen, die keine Spiegel zur Seele des Menschen mehr waren. Augen, die ausdruckslos gen Himmel starrten, ohne die wärmenden Strahlen der Sonne oder das Weiß der vorbeiziehenden Wolken wahrzunehmen.

Der Krieger dachte oft an sein altes Leben zurück, auch wenn es mittlerweile in weiter Ferne lag. An manchen Tagen - an schlechten Tagen - konnte er kam glauben, dass Monate, Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte vergangen waren, seit er dem Krieg zum Opfer gefallen war.
An manchen Tagen glaubte er, es wäre erst ein einzelner Wimpernschlag vergangen. (Weil das Getöse der Schlacht - die Schreie der Sterbenden und das Klirren der Klingen - noch immer in seinem Kopf widerhallte.)
Im Herzen des Kriegers würde die Schlacht niemals verstummen, würde niemals enden. 

Womöglich glaubte er sogar an die Gerüchte, die hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurden. An das Getuschel, an die Mythen und Legenden. An die Geschichten, die ihre Wurzeln tief in die Erde des Schlachtfeldes gegraben hatten und sich vom Blut der Verstorbenen nährten.
Die Leute sagten, dass dieser Ort nach Tod und Gewalt lechzte. Dass er nie etwas anderes sein konnte, als ein Kriegsschauplatz. Ein Grab. Dass er gefangen war in einem ewigen Kreislauf aus Hass und Zwiespalt.
Dass Geister über das weite Feld wanderten, die es nach dem Blut der Lebenden dürstete. Geister wie der Krieger. (Nur, dass er nicht nach weiteren Kämpfen verlangte. Er wollte nur den schweren Mantel der Vergessenheit umlegen. Mehr wollte er nicht. Zumindest nicht mehr.)

Und vielleicht wollte auch dieser Ort vergessen. Vielleicht wollte er vergessen, wozu ihn die Menschen gemacht hatten. Was die Menschen aus ihm gemacht hatten.
Denn bevor tausend Schlachten auf dem weiten, weiten Feld geschlagen worden waren, hatte es den Geschmack von Blut nicht gekannt. Die langen Halme von grünen Gräsern hatten sich im Wind hin und her gewiegt. Das Summen von Insekten war laut in der sanften Stille gewesen. Und knorrige, alte Olivenbäume hatten Jahr um Jahr pralle Früchte getragen. Das Gezwitscher der Vögel war laut, so laut, gewesen. Lauter als der Krieg je sein konnte. 

Heute standen wieder Bäume auf dem Feld; junge, unerfahrene Bäume. Aber nichtsdestotrotz Bäume. Und eines Tages würden sie ihre eigenen Geschichten zu erzählen haben.
Eines Tages würde auch der fröhliche, unbeschwerte Gesang der Vögel zurückkehren.
Eines Tages würde die Natur sich zurückholen, was ihr vor so langer Zeit genommen worden war.
Eines Tages würde niemand sich mehr daran erinnern, dass abertausend Gebeine unter den Grashalmen verborgen lagen.
Niemand, außer der Krieger. 

Er würde auf ewig eine Mahnung bleiben.
Er würde sich an die Schlacht, das Blut und die Grausamkeit erinnern.
Und an die Gefallenen. An all die Gefallenen.
Wer sonst würde es tun? Wer sonst, wenn nicht er?