Der erste Traum


Authors
Shahar
Published
5 months, 13 days ago
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I. Tanz
Das Fehlen von Leben.
Die Abwesenheit allen Seins.
Ein leerer Raum, der weder in strahlendes Weiß noch in trübes Schwarz getaucht ist.
Nichts.
Es gibt kein Chaos, das sich nach Ordnung sehnt. Keinen Zufall, dem Ketten angelegt werden müssen.
Nur das Nichts. Und in diesem Nichts beginnt die Geschichte des Träumers.
Er ist der Anfang und das Ende. Anfang, Ende, und alles, was dazwischenliegt. (Und so viel mehr.)
Der Träumer ist ein einzelnes Glied in einer langen Kette aus Kausalitäten. Im selben Atemzug ist er dazu bestimmt, aus dieser festen Struktur auszubrechen, der Beginn einer neuen Reihe an unerwarteten Ereignissen zu sein.
Formlos verharrt der Träumer in der Leere. Abwesend, abwartend. Unwissend. Ihm ist das Konzept von Zeit noch unbekannt; sie ist nur ein ferner Gedanke, ein Hauch in der Unendlichkeit. Wimpernschläge oder Äonen ziehen im völligen Stillstand vorbei.

Der Träumer erwacht aus einem langen Dämmerschlaf, aus einem Zustand, jenseits von Existenz.
Seine Augen sind Flammen, die den leeren Raum definieren. Flammen; dunkel und hell zugleich.
Er ist das erste Licht.
Dem Blinzeln des Träumers entspringen Sterne, seine Gedanken werden zu Sonnen, seine Bewegungen schlagen klaffende Wunden in einen brüchigen Schleier. Aus seinen Fingerspitzen sprießen Galaxien, sein Atem erschafft kosmische Nebel.
Und als der Träumer seinen Arm ausstreckt und ins Nichts greift, fließt Dunkelheit aus seinen geöffneten Handflächen.
Er ist das erste Licht. Und die erste Dunkelheit.

Wie eine Marionette wird der Träumer mitgerissen von einem stetigen Fluss aus vorherbestimmten Bewegungen. Ein Ablauf, noch älter als er selbst.
Der Träumer tanzt mit dem Dämmerlicht verlöschender Sterne und lächelte den ersten Strahlen aufgehender Sonnen entgegen.
Er lernt das Zusammenspiel von Licht und Schatten kennen. Den Tanz von Gravitation und Schwerelosigkeit. Das Ringen von Entstehen und Vergehen.  
Er lernt, bis es nichts mehr zu lernen gibt.
Der Träumer weiß, dass sein Spiel - im Gegensatz zu seiner Existenz - endlich ist. Und er weiß, dass eben jenes Ende gekommen ist.
Ein letztes Mal geht er im Lied des Schaffens auf, ein letztes Mal verspürt er den Rausch, die unbändige Freude, die ihn jedes Mal aufs Neue erfasst.
Dann ballt der Träumer die Hände zu Fäusten, verwehrte Millionen von Gedanken, Millionen von Leben, zu entstehen. Die Kerzen, die in den Augenhöhlen des Träumers flackern, beginnen zu erlöschen. Als hätte ein Windstoß die zarten Flammen erfasst.
Der Träumer senkt seine Lider, schwer vom endlosen Tanz, und hält den Atem an.


II. Einsamkeit
Die erste Schwester des Träumers ist ein zerbrechliches Wesen; flüchtiger als ein Wimpernschlag, formloser als eine Erinnerung. Sie entstand in der Stille eines Augenblicks und aus dem Flehen eines Moments. Und doch ist sie kaum mehr als der Hauch einer Illusion. Eine Vorstellung, vor der alles Leben, alles Sein ehrfürchtig zittert.
Wenn der Träumer das Chaos verkörpert, dann ist die Uhrenmacherin die Ordnung.
Sie können nicht ohne einander existieren. Sie können nicht miteinander existieren.
Und wie der Träumer wurde auch die Uhrenmacherin erschaffen, um eine Aufgabe zu erfüllen. Doch im Gegensatz zu ihrem Bruder ist ihr Tun nicht erfüllt von tausend Gefühlen, tausend Emotionen. Ihre Bewegungen sind starr, folgen haargenau dem unscheinbaren Takt ihres Herzschlages.

Die Uhrenmacherin ist wie ein Netz, welches Universen zusammenhält. Ein Netz aus seidenen Fäden. Sie ist das Verbindungsstück zwischen Existenz und Inexistenz. Zwischen Leben und Tod.
Ihr Atem haucht den Wesen aller Welten einen Geist ein, während ein Wort aus ihrem Mund genügt, um die Seelen wieder aus ihren sterblichen Hüllen zu befreien. Sie war bereits zugegen, als das erste Herz zu schlagen begann und sie wird zugegen sein, wenn das letzte Lied des Lebens verstummt.
Für die Uhrenmacherin sind Leben und Tod gleichermaßen grausam. Sie selbst aber trägt die Ewigkeit im Herzen trägt, wird nie in der Lage sein, um ein einzelnes Dasein zu trauern, das innerhalb eines Wimpernschlages vergeht.
Keine goldene Träne rinnt je über die Wange der Uhrenmacherin, kein Lächeln verzerrt je ihr Gesicht zu einer Fratze. Wenn sie ihren Blick der Welt zuwendet, dann ist der Ausdruck in ihren Seelenspiegeln unbeteiligt, glanzlos. Ihre Augen sind weder jung noch alt; die trüben Tiefen sind unergründlich. Existieren jenseits der Vergänglichkeit.
Sie ist dazu bestimmt, dazu verdammt, jede Linie in der Zeit zugleich zu beschreiten. Ohne innezuhalten, ohne zu denken, ohne zu fühlen.
Einzig die Geburt des Träumers entzieht sich ihrem Einfluss. Und sein Ende.

Manchmal erblickt sie ihn in den Korridoren, die sie unablässig durchwandert. Aber es ist nicht der Träumer, der ihr erscheint, sondern eine Reflexion seines Selbst; verloren in der Zeit. Ein Abbild, das die Winde zur Uhrenmacherin tragen. Sie folgt seinen Spuren durch die Unendlichkeit, als wäre sie eine Motte und er das Licht.
(Er ist das Licht. Das Licht und die Dunkelheit.)
Bereits als der erste Zeiger die erste Sekunde eingeläutet hat, war das Schicksal der Uhrenmacherin unweigerlich mit dem des Träumers verknüpft gewesen.
Jeder ihrer Schritte führt sie zu ihm; zu ihm und zu seinem Gefängnis.
Als sie ihm gegenübersteht, hört sie das letzte Korn in einer Sanduhr hinabfallen.

Die Uhrenmacherin ist nicht herzlos, sie nimmt dem Träumer seine Ketten ab, lässt ihn entweichen in die Welt. Beendet seine Gefangenschaft, obwohl jede Bewegung ihr Schmerzen bereitet. Bereiten wird. Sie denkt nicht an die Konsequenzen. Die Uhrenmacherin lebt im Moment. Und in der Vergangenheit und in der Zukunft. Die Uhrenmacherin kennt die Konsequenzen.
Für den Träumer ist es an der Zeit hinaus in die Welt zu gehen, während die Uhrenmacherin zum ersten Mal in ihrem Dasein die Augen vor der Wirklichkeit verschließt.
(Die Uhrenmacherin will nicht alleine in der Ewigkeit wandeln.)


III. Vorstellungskraft
Vor langer Zeit entsprang der Träumer dem Nichts und gebar das Chaos, nur um sich letztendlich der Ordnung zu beugen.
Sein Herz nährte sich von den Gedanken und Gefühlen der Welten, die er erschuf, und pumpte rabenschwarze Tinte durch seine Adern. Über seine Haut zogen sich filigrane Musterungen, immer fließend, immer in Veränderung. Und mit jedem Schritt, den er tat, zerfielen Zivilisationen, Welten und Sterne zu nichts als Staub. Wenn er die Hand ausstreckte, gebar er nie dagewesene Geschöpfe. Er hatte dem Zauber des Schaffens nicht widerstehen können, hatte wie gebannt jene neuartigen Wesen betrachtet. Mit ihren Flügeln, Krallen, Zähnen. Klein und groß. Naiv und weise.
Vor langer Zeit erschuf er das Leben. Und dessen Zerbrechlichkeit.
 
Der Träumer erinnert sich noch heute daran, doch ihm bleibt nichts als das; die Erinnerung.
Entgegen seines Namens, ist es ihm nicht erlaubt, zu träumen, zu wünschen, zu sehnen. Nicht mehr.
Er kann nur als Beobachter durch die Welten wandern. Durch mehr Welten, als ein begrenzter Verstand je erfassen kann. Welten; manchmal so voller Leben, manchmal so trist und grau wie ein Wintermorgen.
Er ist von Neuem dazu auserkoren worden, Teil des endlosen Liedes zu sein. Zu singen vom Anbeginn und dem Ende. Der Vergangenheit, der Zukunft. Und dem Hier und Jetzt.

Die Augen des Träumers sind blind und sehend zugleich. Sie sind dunkel wie die ewige Schwärze vor der Dämmerung (der Sterne, der Sonnen, der Monde). Und sie funkelten wach, oh so wach, weil es dem Träumer verwehrt ist, Ruhe zu finden und die immer beobachtenden, immer wachsamen Augen abzuwenden.
Er darf seinen Geist nicht vor den Erzählungen und Geschichten der Welten verschließen. Er muss sie kennen, muss ein versteckter Teil von ihnen werden. Wie ein Staubkorn, das sich vom Wind tragen lässt.
Es gibt nur eine Geschichte, die der Träumer nicht kennt, die er niemals erzählen oder weitergeben kann; Die Geschichte seiner Entstehung.
Trotzdem hat er erkannt, welche Aufgabe ihm übertragen worden ist; Der Träumer soll die Ordnung im Chaos, der Wegweiser in der Flüchtigkeit sein.

Aber der Träumer unterscheidet sich von all den Wesen, die nach ihm kommen sollten. Die vielleicht vor ihm gekommen sind.
Er ist einzigartig. Und damit alleine, auf ewig alleine.
Der Träumer schwimmt nicht mit dem Strom, gleitet nicht mit den Winden. Er sucht seinen eigenen Weg, entgegen aller Vorschriften und Regeln des Kosmos.

Man sagt, der Verstand sei begrenzt, könnte nur reproduzieren, was ihm bereits bekannt ist. Wissen neu kombinieren, neu formen, doch nie neu erschaffen. Aber der Verstand des Träumers machte nicht an den Grenzen des Möglichen halt.
Er streckt seine Hände aus, lässt alle Fesseln zu Staub zerfallen, die ihn je gebunden haben.
Seine Augen sind geschlossen, als er beginnt von Welten, von Farben zu träumen, die niemand je gekannt hat.