Ein Lied


Authors
Shahar
Published
5 months, 13 days ago
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Der Sänger ist alt. Älter als das Leben selbst.
Er hat den ersten Wesen der Welt ein Wiegenlied gesungen.
Das ewige Lied der Wellen und des Windes.

Die Späherin kennt ihr Alter nicht. Sie kennt nur dem endlosen Strand; kennt tausend Dünen und tausend Sandkörner. Tausend Klippen und tausend Felsen.
Seit die Späherin durch die Welt schreitet, sind ihr Wärme und Kälte, Licht und Schatten, Tag und Nacht vertraut.
Und das Lied der Wellen und des Windes.

Der Sänger ist ein Wesen, das nie stillsteht; ein Wanderer. Fortschreitend und flüchtig.
Er ist der helle Schaum, der die Wellen krönt. Das Unwetter über dem dunklen Ozean und das trübe Wasser, das gegen scharfkantige Felsen schlägt.
Er ist der schroffe Schrei einer fernen Möwe. Das Rascheln in den Gräsern, der heulende Wind.
Wenn Wut sein Antlitz verzerrt, türmen sich die Wolken am Horizont zu Bergen auf.
Wenn Tränen aus seinen Augen tropfen, fällt eisiger Regen auf die Küste.
Und wenn Millionen von Sternen in den ruhigen Tiefen des Ozeans ertrinken, dann lächelt der Sänger.

Die Späherin kennt keine persönlichen Gefühle, ihr Gesicht ist reglos. Die leeren schwarzen Augenhöhlen sind Spiegel einer undurchdringlichen Finsternis.
Einer Finsternis, aus der sie geboren wurde. Oder erschaffen.
Sie kennt weder die Freude des Lebens noch die Angst vor dem Tod. Denn Leben und Tod sind grundlegende Bestandteile ihres Wesens. Wie eine Medaille hat die Späherin zwei Seiten, die sie im Einklang hält. Halten muss.  
Federn, Muscheln und Bernstein zieren wie Schmuck ihr dunkles Haar. Haar aus Tang und Gras.
Bleiche Knochen ragen aus ihrem Rücken. Ein Netz hat sich darin verfangen. Und im Netz zahllose Kuriositäten des Strandes; Ein vergessener, mohnblumenroter Eimer. Verirrte Glasscherben. Verwesende Leiber.
Das Kleid der Späherin ist gefertigt aus feinstem Sand. Manchmal ist der Sand warm, erhitzt vom stetigen Sonnenschein. Manchmal ist er kalt wie die dunklen Tiefen der See.  
Der Wind zupft am Saum, lässt helle Körnchen unbeschwert in der Luft tanzen.
Doch die Späherin hat sich noch nie gewünscht, Teil des fröhlichen Tanzes zu sein.

Der Sänger bringt der Späherin die schönsten Geschenke; geschliffenes Meerglas, leuchtende Küstenblumen und Schätze aus den Tiefen. Aber sie hat keine Augen dafür.
Er singt ihr tagein, tagaus ein Lied, spricht zu ihr durch das Flüstern der Wellen. Aber sie hat ihm niemals geantwortet.
Und selbst, wenn die Späherin sich der See und dem Sänger nähert, geht sie nie auf seine Worte ein. Stattdessen ist sie still, totenstill. Wie eine Statue, eine Göttin gemeißelt in weißen Marmor, starrt sie hinaus aufs Meer. Meist erscheint sie innerhalb eines Augenblicks, und wirkt, als wäre sie schon immer dagewesen. Dann ist es unmöglich zu sagen, wie lange sie schon an Ort und Stelle verharrt.
Wimpernschläge, Stunden, Tage. Monate, Jahre?
Der Sänger streckt seine Fingerspitzen wie tausend Male zuvor nach der Späherin aus. Eine neue Welle bricht, schwappt über den Strand. Aber die Späherin weicht instinktiv vor seiner Berührung zurück. Einer Berührung, die ihrer Existenz ein schnelles Ende bereiten würde.

Die Späherin bewegt sich nicht, einzig der Wind spielt unbedarft mit ihrem Haar. Sie steht am Rande des Abgrunds. Ein Schritt nach vorne, und sie würde in die Tiefe stürzen, wo Wellen dunkle Felsen küssen.
Sie liebt Orte, die Gegensätze voneinander trennen. Die Grenze zwischen emporragenden Klippen und dem klaffenden Abgrund. Zwischen der hügeligen Dünenlandschaft und flachen Stränden.
Und die eine unsichtbare Linie, welche sie nie überschreiten darf. Wo der offene Ozean und die tausend Sandkörner des Strandes aufeinandertreffen.
Einen Herzschlag später steht sie eine Fußspitze von der Brandung entfernt.
Und dort verharrt sie reglos, bis Seevögel sich ihr ohne Scheu nähern. Eine Möwe lässt sich auf der Schulter der Späherin nieder, wispert ihr eine weitere ungehörte Botschaft ins Ohr.

Der Sänger betrachtet die Späherin lange, als sie am Abgrund steht und ausdrucklos in die Ferne blickt. Sie ist ein Wesen, das Tod und Leben näher ist, als der Sänger es je sein wird.
Versteht er sie deswegen nicht?
Der Sänger besitzt eigene Emotionen; Wut, Trauer, Freude. Aber er versteht nicht, was seine Launen anrichten. Er versteht nicht.
Er kennt den Schmerz des Vogels nicht, dessen Schwingen in peitschenden Windböen bersten oder die Trauer der Mutter, die ihr Jungtier in den unbarmherzigen Wellen verliert.
Wenn er sieht, wie die Späherin einen verletzten Vogel sanft streichelt oder die Augen eines Verstorbenen für immer schließt, versteht der Sänger nicht. Er versteht nicht, dass sie den Schmerz aller Wesen gleichermaßen verspürt. Ihre Trauer, ihre Freude.
Er versteht nicht.

Die Späherin steht im Auge eines peitschenden Sturms. Donner grollt bedrohlich und Blitze malen den Himmel in den hellsten Farben an. Der Wind ist ungezähmt, der Regen prasselt hart zu Boden.
Der Sand im Kleid der Späherin ist fließend, sie verschmilzt mit dem ruhelosen Strand.
Alles Leben sucht Zuflucht in den geschützten Winkeln der Küste. Nur die Späherin nicht. Sie hält Wache für die Verlorenen. Als wäre es ihre Aufgabe, als wäre es ihre Bestimmung.
Obwohl sie keine Träne vergießen kann, weint sie um die Strandbewohner, die im Sturm ihr Leben lassen. Und lächelt für jene Wesen, die inmitten des Unwetters das Licht der Welt erblicken.

Der Sänger jault mit den Winden und brüllt mit dem Donner um die Wette.
Seine Stimme ist klar und melodisch wie das stetige Prasseln des Regens. Aber nicht einmal das wilde Lied des Sturms kann die Angst in seinem Inneren übertönen.
Er ruft der Späherin unablässig Warnungen zu, lässt Möwen kreischen und Wellen tosen.
Aber nach Äonen der Untätigkeit beginnt die Späherin auch an jenem Tag nicht, ihr Verhalten zu ändern. Sie steht still im Angesicht einer Gefahr, die sie nicht erkennt.
Und der Sänger ist zum Zusehen verdammt, hat er es doch in all den Jahren nie geschafft die Späherin zu erreichen.
Eine Welle kriecht unaufhaltsam über den breiten Sandstrand. Größer und schneller, als ihre Vorgänger.

Die Späherin berührt zum ersten Mal in ihrem langen Leben die endlose See.

Der Sänger findet nach dem abklingenden Unwetter nur ein Gerippe am Strand. Bleiche Knochen, aus denen Blumen von der Farbe der Sonne hervorsprießen. Und eine einsame Möwe, die hungrig an den Überresten pickt.
Die Trauer und Wut des Sängers sind so überwältigend, dass sie beinahe einen weiteren Sturm heraufbeschwören. Aber die See bleibt ruhig, die Wellen friedlich.

Die Späherin erwacht, weil die See ihr ein Wiegenlied singt.
Das ewige Lied der Wellen und des Windes.
Sie erinnert sich nicht an ihre Auslöschung. Und nicht an ihre Rückkehr.
Doch die fließenden blauen Augen der Späherin sind klar wie Spiegel. Spiegel eines endlosen Meeres.
Eines Meeres, aus dem sie geboren wurde. Oder erschaffen.