Die Scherbensammlerin


Authors
Shahar
Published
5 months, 12 days ago
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Die Scherbensammlerin schreitet am Rand der Klippe entlang, getrieben von gleichgültiger Rastlosigkeit, Wind in ihren wallenden Haaren von der Farbe der Gischt, die weit unter ihr gegen raue Felsen schlägt. Weiß ist die einzige Farbe, die der Scherbensammlerin würdig ist. Weiß, das für Reinheit und Unschuld steht. Als wäre sie eine zarte Blüte, erst jetzt bereit, aus der Knospe hervorzubrechen und sich aus der Dunkelheit ins Licht zu wagen.
Wie könnte dieses strahlende Weiß in der Seele jenes Wesens, welchem es nicht möglich ist, in einer herkömmlichen Weise zu denken, je verunreinigt werden?
Sie ist weder jung noch alt, die Zähne der Zeit haben nie an ihr genagt, denn die Ewigkeit wird für immer unberührt bleiben. Niemals wird die Scherbensammlerin erfahren, was man verspürt, wenn man um die eigene Existenz fürchtet. Der Instinkt, ihr eigenes, endloses Überleben zu sichern, wird ihr nie bekannt sein.
Ein Vorteil oder doch eher ein Nachteil? Ist das ewige Fortbestehen der eigenen Existenz etwas Erstrebenswertes? 
Die Scherbensammlerin jedenfalls wird sich darüber nie Gedanken machen müssen. Ein anderes Geschöpf hat ihr diese Entscheidung vor langer Zeit, vor einer Ewigkeit, abgenommen.
Ob es jenem Wesen ohne Erinnerungen, ohne Gefühle möglich ist, die Unvergänglichkeit zu begreifen, den endlosen Zyklus von Entstehen und Vergehen? 
Furcht und Angst setzen voraus, dass es etwas gibt, was man nicht kennt oder von dem eine Gefahr ausgeht. Doch die Scherbensammlerin kennt alles und fürchtet nichts, genauso wie sie nichts weiß und alles sie ängstigt. Man kann sich durchaus fragen, ob es ihr überhaupt möglich ist, etwas zu fühlen. Manche Empfindungen stumpfen im Wirrwarr der Zeit irgendwann einmal ab. Mal mehr, mal weniger. Wenn Völker während ihrer Wimpernschläge untergehen und sich erheben können, dann wäre diese Zeitspanne mehr als nur genug, um auch Gefühle auszulöschen.
Gibt es Angst nur, weil man im Besitz des Wissens um das Ende des Lebens ist? Verspürt jenes Wesen sie nicht, weil es dem Sensenmann nie begegnen wird oder kennt es die unerträgliche Last der Ewigkeit?
Die Scherbensammlerin betrachtet das Meer, denn der Ozean ist ein Spiegel des Himmels wie ihre Augen ein Spiegel der Welt sind. Vermutlich ist es diese Tatsache, die sie immer wieder instinktiv ans Wasser zieht. Vielleicht wurde sie aber auch einst aus dem Wasser geboren.
Kann jenes Wesen entstanden sein, wo es doch schon immer da gewesen zu sein scheint? Gab es einst einen Anfang dieser unendlichen Existenz?
Die Scherbensammlerin betrachtet ihr Spiegelbild, blickt ins Angesicht der einzigen Person, die ihr je vertraut sein kann. Einsamkeit ist ihr ebenso fremd wie das Bedürfnis nach Gesellschaft. Sie kann getrennt von allen Lebewesen existieren und doch sind eben diese der Grund ihres Daseins.
Kann jenes Wesen bestehen, ohne jeglichen Zweck, den es zu erfüllen gilt? Ist es wahrhaft lebendig ohne eine Existenzberechtigung?
Natürlich hat ihr Name auch eine Bedeutung. Er gehört ihr nicht wirklich, er beschreibt nur ihre Tätigkeit, und dennoch ist diese Bezeichnung das Einzige, was sie besitzt.
Was wäre jenes Wesen ohne einen Namen? Wären Wesen nur Bilder vor Augen, wenn man nicht die Möglichkeit besäße, sie zu benennen?
Der Instinkt der Scherbensammlerin hat sie an den Strand gelockt. Es ist immer nur ihr Instinkt, der sie leitet. Oder das, was sie für ihren eigenen Instinkt hält, aber genauso die Führung eines Gottes sein könnte.
Ist jenes Wesen selbst ein Gott? Kann es gleichzeitig allmächtig sein und dennoch nicht alles Vollbringen können?
Die Scherbensammlerin hebt Bruchstücke eines zerbrochenen Spiegels auf und setzt sie in den Rahmen. Der Spiegel ist an einem Felsen zerschellt, unwiederbringlich verloren, aber das ist ihr nicht bewusst, so ganz ohne Bewusstsein. Die Scherben fallen aus dem Rahmen, schneiden in ihr eigenes Fleisch und werden nicht erneut zu einem Ganzen.
Kann etwas, das einst vollständig war je wieder zu etwas Ganzem werden? Ist jenes Wesen eine eigenständige, vollwertige Existenz?
So wandert die Scherbensammlerin zum nächsten Spiegel, ihre Hände blutig und doch verspürt sie keinen Schmerz. Manche Spiegel sind komplett zerbrochen, anderen fehlen nur Ecken oder Bruchstücke. Doch egal wie sie aussehen, jedes Mal wird die Scherbensammlerin wie mechanisch versuchen, den Spiegel wieder zusammenzusetzen.
Ist jenes Wesen überhaupt ein Lebewesen, so ganz ohne alles, was eine Seele ausmacht?
Ist die Zeit für jenes Lebewesen ein Kreis oder eine Gerade? Wird es je das Ende von alldem miterleben bis selbst der Spiegel der Scherbensammlerin an den Klippen zerschellt? Und wird