Rote Blumen


Authors
Shahar
Published
5 months, 13 days ago
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Die Scherbensammlerin wandert durch den schneeweißen Sand am Rande eines aufgewühlten Meeres. Währenddessen gebärt die See unaufhörlich monströse Wellen in einem ewigen Kreis aus Entstehen und Vergehen. Sie branden immer aufs Neue an den Strand, spülen Scherben ans Land und werden selbst wieder ein Teil des Ganzen, des Meeres.
Ob die Scherbensammlerin je zu etwas Größerem als sich selbst gehört hat? Ob sie sich wohl danach sehnt mehr zu sein?
Für die Launen des Wassers hat sie jedenfalls keine Augen. Nichts anderes als ein weiterer Spiegel unter vielen ist das Meer für sie. Wenn die Scherbensammlerin ihren leeren Blick doch länger an den Horizont heftet, kann sie die See nur mit fließendem Spiegelglas vergleichen. Oder einer tiefen Dunkelheit, die unzählige Spiegel verschlungen hat. Unerreichbar. Für immer in der Tiefe verloren.
Sehnt sich jenes Wesen danach, das Unbekannte zu sehen? Sehnt sie sich danach die Verlorenen zu retten? Oder stellt dies einzig eine Bürde für sie dar?
Trotz allem zieht die Scherbensammlerin immer ihres Weges. Niemals kann sie einen bekannten Landstrich wiedererkennen, denn der Zahn der Zeit nagt ohne Unterlass an jedem Ort. Berge vergehen, Meere trocknen aus. Und doch wandert sie weiter und weiter und immer weiter.
Hat dieses unveränderliche Wesen überhaupt einen Platz in einer sich verändernden Welt? Wird es sich je den Gesetzen der Natur unterwerfen, um ein Teil von ihr zu werden?
Nach einem Wimpernschlag, der genauso gut eine Ewigkeit hätte sein können, greift die Scherbensammlerin in die Gischt. Weder Kälte noch Nässe nimmt sie wahr, nur die Splitter, die sie herauszieht. Gefangen in endloser Apathie beginnt sie einen der Spiegel wieder zusammenzusetzen. Es spielt keine Rolle, dass er möglicherweise wieder zerschellen wird. Es wäre nicht der Erste und sicherlich nicht der letzte Spiegel, dem dieses Schicksal widerfährt.
Geht sie ihrer Tätigkeit nach, weil sie deren Nichtigkeit nicht begreift oder gerade deswegen? Sieht sie einen Sinn in ihrem Tun oder handelt sie, weil sie auf der Suche danach ist?
Anders als die Landschaft erkennt die Scherbensammlerin jeden einzelnen Spiegel wider. Weder meidet noch bevorzugt sie spezielle Exemplare, denn als Verkörperung der absoluten Neutralität steht es ihr nicht frei, diese Entscheidung zu treffen. Niemals kommt das Verlangen danach in ihr auf.
Kann dieses Wesen ohne eigenen Willen je frei sein? Oder ist es deswegen bereits wahrhaft frei? 
Nochmals hebt die Scherbensammlerin spiegelnde Bruchstücke aus dem Wasser.
Rote Blumen erblühen im Meer. Licht bricht sich in den Splittern. Der entfernte Schrei eines Vogels ertönt.
Ein weiterer Spiegel wird vervollständigt.
Der Welt bedeutet der einzelne Spiegel nichts, doch für die Scherbensammlerin bedeutet er die Welt.
Erfüllt ihre Aufgabe die Scherbensammlerin? Verspürt sie eine solche Empfindung überhaupt? Weiß dieses Wesen, was Glück bedeutet?
Der Sand vor ihren Füßen färbte sich rot. Farbige Tupfen im grellen weiß.
Zum ersten Mal blickt die Scherbensammlerin auf ihre Finger, mit der Absicht, diese wahrzunehmen.
Zum ersten Mal sieht sie das Blut, das an ihren Händen klebt.
Ihr eignes Blut.
Wird sie je begreifen, woher ihre Wunden stammen?