Holografischer Himmel


Authors
Shahar
Published
11 months, 11 days ago
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Amy hatte nicht gewusst, was sie ihrem Bruder angetan hatte, bis sie Orions Gestalt zum ersten Mal auf einem Holodisplay aufflackern sah.
Seine Haltung war steif und sein Gesicht angespannt. Alles an ihm schrie nach Flucht, aber vor den Augen der endlosen Stadt konnte man sich nicht verstecken – egal wie schnell und weit man rannte.
Hinter Orion stand Sharon, die mit ihren unerschütterlichen, harten Augen wirkte, wie ein Fels in der Brandung (des Sturmes, den Amy heraufbeschworen hatte). Sharons rechte Hand ruhte auf Orions Schulter. Beruhigend und einnehmend.
Ob das von Anfang an ihre Intention gewesen war? Den nächsten König der endlosen Stadt ihr Eigen nennen zu können? Zu einer Puppenspielerin zu werden, die im Hintergrund die Fäden zog?
Sharon stellte ihr ewig nichtssagendes Lächeln zur Schau. Sie war professionell und geschickt in dem, was sie tat. Und im Gegensatz zu Orion war sie die Aufmerksamkeit gewohnt, die mit einer Position im mächtigsten Konzern der Welt einherging. Einer Position, die sie sich über viele Jahre hinweg erarbeitet, erkauft und erschlichen hatte. Sie hatte mit nichts angefangen und alles erreicht.
Es war ihre Unscheinbarkeit, die Sharon gefährlich machte. Die ihre Ambitionen und verbarg und ihre Gedanken verschleierte.
Dieser Unscheinbarkeit war auch Amy zum Opfer gefallen, als Sharon ihr im alles entscheidenden Moment einen Dolch in den Rücken gerammt hatte. Niemand geringeres als Sharon hatte Amys langen Fall in die Tiefe herbeigeführt und alles zunichtegemacht, wofür sie monatelang Seite an Seite gearbeitet hatten.
Sharon hatte Amy gelehrt, dass man niemandem in der endlosen Stadt vertrauen konnte.
Die Stimme des Nachrichtensprechers drang gedämpft zu Amy durch. Er sprach über ihr Verschwinden. Das Verschwinden der Erbin des Konzerns. (Der Erbin der Welt.)
Und dann folgten die Verbrechen, die man ihr anlasten wollte. Damit sie eines Tages in einem Gefängnis landete und schwieg; für immer schwieg. Damit sie nicht ans Licht bringen konnte, wie falsch und korrupt die Führungsriege des Konzerns schon seit Jahrzehnten war.
Amy schüttelte verbittert den Kopf, weiße Strähnen fielen in ihr Gesicht.
Orions Stimme fehlte jegliche Emotion, als er immer wieder und wieder beteuerte, nichts von ihren angeblichen Machenschaften gewusst zu haben. Er sprach von der Entsetzlichkeit ihrer Taten und davon, wie schwer es ihm zu schaffen machte. Hohle, einstudierte Worte verließen minutenlang seinen Mund.
Ihr Bruder war zu einer Spielfigur geworden, weil Amy sich geweigert hatte, den für sie vorgesehenen Platz einzunehmen. Weil sie es gewagt hatte, ihre Stimme zu erheben. Weil sie noch immer an das Gute in den Menschen glaubte.
Sie sah, wie Orions Hände bebten. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre alt und schon schaute die ganze Welt zu ihm auf. Erwartete Antworten und Aktionen. Doch anders als Amy war er nicht dazu geboren worden, mit Leichtigkeit über die Bühnen der Welt zu wandern. Es war ihm nie leichtgefallen, im Rampenlicht zu stehen, er hatte sich immer hinter anderen versteckt; Zuerst hinter ihrer Mutter, dann hinter Amy selbst. Noch heute erinnerte sie sich an Orions Reaktion, als man ihm mitteilte, dass sich ihre Eltern getrennt hatten. Dass ihre Mutter nicht auffindbar war und wohl nie wieder zurückkehren würde. Sie erinnerte sich daran, dass Orion tagelang apathisch und nicht ansprechbar gewesen war. Dass er sich nur quälend langsam erholt hatte und nie wieder derselbe gewesen war. Und nun war auch Amy fortgegangen, wenn auch nicht freiwillig.
Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht darüber nachgedacht, was dies für Orion bedeutete. Für einen Jungen, den sie gekannt hatte, bevor er zu einem Sternbild am Himmelszelt geworden war. Was es für ihren Bruder bedeutete.
Als das Hologramm erlosch, stützte Amy den Kopf auf ihren Händen ab und blickte ins Leere. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange und tropfte wie eine verirrte Sternschnuppe zu Boden.