Endlose Februarnacht


Authors
Shahar
Published
4 months, 24 days ago
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445

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Author's Notes

Orions Gestalt zeichnete sich als schattenhafte Silhouette vor dem Nachthimmel ab.
In seiner Wohnung brannte kein einziges Licht.
Weil er sich erlaubte, sie in dieser Nacht zu hassen. Sie; die künstlichen Lichter seiner Welt.
Und weil er sein Spiegelbild nicht im dunklen Glas des Fensters sehen wollte.
(Weil er die Wahrheit nicht sehen wollte.)
Nicht an diesem Tag.

Seine schmalen Finger ruhten auf der kalten Scheibe, strichen vorsichtig darüber. Währenddessen blickte er in die Tiefe. Blickte auf eine unendliche Stadt hinab.
Auf eine Stadt, die er liebte.
Auf eine Stadt, die er hasste.
Auf seine Stadt.

Doch obwohl ihn abertausend Seelen umgaben, war Orion alleine. An diesem Februartag war er immer alleine.
Und jedes Jahr aufs Neue wiederholte er dieselben leeren Worte. Mit kalter Miene beteuerte er wieder und wieder, dass es ein Tag wie jeder anderer wäre. Aber natürlich war es eine Lüge.
(Und Orion gelang es nicht, sich selbst zu belügen.)
Denn tief in seinem Inneren wusste er, dass ihm dieser Tag etwas bedeutete. Dass er es an diesem einen Tag nicht schaffte, seine kühle Maske aufzusetzen und der Welt ein teilnahmsloses Lächeln zu schenken.
Und so war nur die nächtliche Dunkelheit Zeuge, dass ein Teil von Orion im Begriff war zu brechen (wie hauchdünnes Glas).

Draußen segelten dicke Schneeflocken dem Boden entgegen, obwohl sie ihn nie erreichen würden. Weiße Tupfen in der lichtgetränkten Schwärze. Dazu bestimmt zu verblassen, bevor sie ihr Ziel erreichten.
Die winterliche Kälte umfing Orion, seine Fingerspitzen waren bereits eiskalt. Aber er bemerkte es kaum.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem trüben Horizont. Als läge dort etwas Anderes als die endlose Stadt. Etwas Neues, etwas Fremdes.
(Ein Traum, der sogar Orion in Versuchung führte.)
Aber er wusste, dass sich selbst am Ende des Horizontes nur gläserne Wolkenkratzer und graue Häuserblöcke verbargen.
Dass es nichts gab, dass für ihn wahrlich außer Reichweite lag.

Dann erreichte die Nacht ihren Höhepunkt und wurde innerhalb eines Augenblicks zum Tag.
In perfekter Abfolge explodierten zahllose Feuerwerkskörper und malten Lichterblumen in die Finsternis. Und Funken segelten gen Erde wie Blütenblätter.  
All die Lichter, all die Farben tanzten über Orions Antlitz; verfingen sich in seinem weißen Haar und seinen hellen Seelenspiegeln. Beleuchten nasse Furchen auf seinem müden Gesicht.
All die Lichter, all die Farben. Und in dieser Nacht gehörten sie nur ihm.
Seine Welt war zu grell, für den Nachthimmel. Zu schillernd, zu strahlend.
Doch Orion konnte selbst die Dunkelheit mit Sternen füllen.
(Tausend falsche Sterne, die nur für ihn verglühten.)